Wer hält sich an die Corona-Regeln im Lockdown?
Welche Erklärungen die Verhaltensökonomik liefern kann
Die Covid-19-Pandemie ist eine der größten ökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderungen seit dem zweiten Weltkrieg. Seither wurden weltweit zahlreiche einschneidende Politikmaßnahmen umgesetzt, die das Ziel hatten die Ausbreitung einzudämmen. Nach und nach wurden die Ansätze angepasst, von ursprünglich „weichen“ Maßnahmen, wie Hygieneempfehlungen und Abstandsregeln, bis hin zu geschlossenen Grenzen und „Lockdowns“ mit Ausgangsverboten. Der Erfolg von Lockdowns hängt dabei maßgeblich von der Regelkonformität der Bevölkerung ab.
Für die Regelkonformität in der Pandemie spielen individuelle Verhaltenseigenschaften und die soziale Verantwortung der Bürger*innen eine wichtige Rolle. Beispiele hierfür sind „Social Distancing“ und das Tragen von Schutzmasken. Wer bereit ist, soziale Verantwortung zu übernehmen, der trägt in der Öffentlichkeit Masken, um andere zu schützen. Handelt jeder so, dann ist jeder bestmöglich geschützt und der gesellschaftliche Nutzen steigt. Allerdings ist dieser Zustand nicht stabil, da sich viele Bürger*innen am Tragen einer Maske stören. Daher steigt der persönliche Nutzen, wenn man selbst keine Maske trägt und dies aber die anderen tun. Denkt nun jeder so, dann wird dies auf einen Zustand hinauslaufen in dem niemand mehr soziale Verantwortung zeigt. Man nennt diese Situation ein „Soziales Dilemma“, da persönliche Interessen im Konflikt mit dem gesellschaftlichen Wohl stehen. Dieser Zielkonflikt beschreibt die Situation in dem sich viele Bürger*innen während der schier endlos erscheinenden Lockdowns befinden. Hinzu kommen andere Abwägungen und Persönlichkeitseigenschaften, die für das Verhalten während der Pandemie ausschlaggebend sind. So steigt beispielsweise das Infektionsrisiko, wenn man nicht zu Hause bleibt und viele Personen trifft. Genauso erfordern die Regeln und Einschränkungen während der Pandemie eine gehörige Portion Geduld.
Der Beitrag der Verhaltensökonomie in der COVID-19-Krise
Die Verhaltensökonomie kann während der Pandemie wertvolle Erkenntnisse über die individuelle Regelkonformität während eines Lockdowns liefern, da sie Methoden verwendet die individuelle Präferenzen (z.B. Risikoneigung, Geduld, Vertrauen und Ehrlichkeit) misst. Im Kontext von Gesundheit und ökonomischen Entscheidungen spielen sogenannte Risiko- und Zeitpräferenzen eine wichtige Rolle. Beispielsweise führt risikofreudigeres Verhalten langfristig zu höheren Gewinnen (Eberhart et al., 2004) und im Gesundheitsbereich zeigt sich, dass risikofreudigere Menschen weniger bereit sind, medizinischen Behandlungen zuzustimmen (Simon-Tuval et al., 2018), wohingegen geduldige Menschen sich eher an Gesundheitsratschläge halten (Van Der Pol et al., 2017). Um diese Zusammenhänge in der COVID-19 Pandemie zu untersuchen, haben wir (Dr. Stephan Müller & Prof. Dr. Holger Rau von der Universität Göttingen) im März 2020 während des ersten Lockdowns in Deutschland ein Internet-Experiment mit 198 Teilnehmer*innen durchgeführt (Müller und Rau, 2021). Die Studie untersucht, inwiefern sich soziale Verantwortung vor der Krise sowie ökonomische Präferenzen auf die Regelkonformität zu den Politikverordnungen in der Covid-19-Pandemie übersetzt. Die erhöhte Bereitschaft, sich Gesundheitsrisiken auszusetzen, finden wir für risikofreudige Menschen auch in unserem Datensatz, da sie seltener zu Hause bleiben und weniger stark das Zusammentreffen von größeren Menschenansammlungen meiden. Gleichzeitig verhalten sich geduldige Menschen regelkonformer, da sie eher dazu bereit sind, den „Social Distancing“ Verordnungen Folge zu leisten. Dies zeigt sich dadurch, dass es ihnen leichter fällt, zu Hause zu bleiben und keine anderen Menschen zu treffen. Wer ohnehin Probleme damit hat, den sofortigen Konsum auf die Zukunft zu verschieben, neigt in der Krise zu Hamsterkäufen. Eine höhere soziale Verantwortung vor der Krise, die sich durch Wahlbeteiligung, Nicht-Schwarzfahren und Zustimmung zur Masern-Impfplicht zeigt, geht mit einer höheren Regelkonformität in der Covid-19-Pandemie einher. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift „Journal of Public Economics erschienen“. Hinsichtlich der Bedeutung der sozialen Verantwortung vor der Krise zeigen unsere Ergebnisse, wie wichtig das „soziale Kapital“ einer Gesellschaft für die Überwindung einer Krise wie der Covid19-Pandemie ist.
Praktische Anwendung der Ergebnisse
Die Ergebnisse liefern wertvolle Hinweise für das kurzfristige Krisenmanagement. Hierfür können die Erkenntnisse dieser Studie genutzt werden, um Vorhersagen über die Regelkonformität von Personen zu erhalten, was dazu beitragen kann, mögliche Zielgruppen zu identifizieren. Diese Vorhersagen könnten beispielsweise mit administrativen Daten über Wahlbeteiligung oder Statistiken über Schwarzfahrverhalten erfolgen. Diese Informationen liefern wichtige Hinweise für Politiker*innen und Institutionen wie die WHO, um maßgeschneiderte Informationskampagnen zu erstellen. Dadurch könnte in Risikogebieten die Regelkonformität erhöht werden. Weiterhin ermöglicht die Identifikation von Regelkonformität eine zielgerichtetere Zuordnung von knappen medizinischen Ressourcen (z.B. Impfstoffe, Schutzmasken, Beatmungsgeräte). Die Verteilung dieser Ressourcen könnte dann beispielsweise verstärkt in Risikogebiete erfolgen.
Literatur
Eberhart, A. C., Maxwell, W. F., and Siddique, A. R. (2004). An examination of long-term abnormal stock returns.” Journal of Finance, 59, 623-650
Müller, S., & Rau, H. A. (2021). Economic preferences and compliance in the social stress test of the covid-19 crisis. Journal of Public Economics, 194, 104322.
Simon-Tuval, T., Shmueli, A., & Harman-Boehm, I. (2018). Adherence of patients with type 2 diabetes mellitus to medications: the role of risk preferences. Current medical research and opinion, 34(2), 345-351.
Van Der Pol, M., Hennessy, D., & Manns, B. (2017). The role of time and risk preferences in adherence to physician advice on health behavior change. The European Journal of Health Economics, 18(3), 373-386.