Versuch einer Bestandsaufnahme 90 Jahre nach den Studien von Käthe Leichter und Paul Lazarsfeld
Die Tradition empirischer Sozialforschung, die mit dem Anspruch auftritt, Evidenz zur Beantwortung aktueller (sozial)politischer Fragestellungen zu liefern, lässt sich bis in das „Rote Wien“ der Zwischenkriegszeit zurückverfolgen. Käthe Leichters Studien zur Lebenssituation von Arbeiterfrauen oder die berühmte Marienthalstudie repräsentieren paradigmatische Vorläufer des von Paul Lazarsfeld in seinem US-amerikanischen Exil später so genannten „administrative research“, einer politiknahen Sozialforschung, wie sie heute in großen Maßstäben an eigens darauf spezialisierten Instituten unter verschiedenen Etiketten, etwa denen der sozialwissenschaftlichen Auftrags- , Begleit- oder Evaluationsforschung, stattfindet. Diese kämpft aber auch seit ihren Anfängen mit methodologischen, politischen und ethischen Grundlagenproblemen, etwa Fragen nach ihren normativen Grundlagen betreffend. Protagonist:innen der Frühzeit, wie Leichter und Lazarsfeld, räumten offen ein, dass Sie wesentliche Forschungsimpulse aus ihrer politischen Arbeit auf dem linken Flügel von Arbeiterbewegung und SDAP empfangen hatten, sahen darin jedoch keinen Widerspruch zu ihrem Anspruch auf eine streng objektive Empirie, wie sie dem positivistischen Wissenschaftsideal des Wiener Kreises entsprach.
Jedoch ist das Verhältnis zwischen wissenschaftlich ermittelten „Fakten“ einerseits und politischen Zielen seit dem „Werturteilsstreit“ immer wieder problematisiert worden, zuletzt in Debatten um die methodologische Bedeutung von realistischen vs. konstruktivistischen Positionen oder in der Auseinandersetzung mit populistischen Strategien der Desinformation. Diese Kontroversen sind keine Glasperlenspiele, sondern für die Forschungspraxis unmittelbar relevant. Hier sehen sich Forschende oft von mehreren Seiten gleichzeitig bedrängt: auftraggebende Institutionen üben Druck aus, wenn empirische Befunde ungelegen kommen und rekurrieren dabei nicht selten auf methodologische Argumente, die Öffentlichkeit begegnet fremdfinanzierten wissenschaftlichen Studien oft mit großem Misstrauen, und in breit rezipierten akademischen Debatten wird die Möglichkeit einer evidenzbasierten Forschung grundsätzlich in Frage gestellt.
Dieser Vortrag soll die Pfadabhängigkeiten in diesen Entwicklungen und Kontroversen aufzeigen und wichtige Grundlinien der Diskussion nachzeichnen, entscheidende Argumente bündeln und Missverständnisse thematisieren, um die Frage zu behandeln, wo wir in der Debatte gegenwärtig stehen und welche Konsequenzen dies für die aktuelle (administrative und politiknahe) Sozialforschung hat.
Ablauf
Begrüßung
Vortrag Udo Kelle
Kommentar von Claudia Sorger & Nadja Bergmann (L&R Sozialforschung)
Kommentar von Gerlinde Hauer (AK Frauenabteilung)
Diskussion
Get-Together mit Snacks und Drinks
Bitte melden Sie sich hier an: Link zur Anmeldung
Udo Kelle ist Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung und Statistik an der Universität Hamburg