Wissenschaft und Gesellschaft - es braucht eine unaufgeregte Debatte
Autoren: Erich Griessler und Johannes Starkbaum
In den letzten beiden Jahren wurde das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft in Österreich viel diskutiert. Das zeigt sich an der Zunahme an Zeitungsberichten, politischen Stellungnahmen und angekündigten Maßnahmen zu diesem Thema.
Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Politiker:innen griffen vor allem eine im Jahr 2021 veröffentlichte Eurobarometer-Umfrage (Europäische Kommission 2021) auf und interpretierten sie oft dahingehend, dass die österreichische Bevölkerung im europäischen Vergleich besonders wissenschaftsskeptisch sei. Was unter Wissenschaftsskepsis eigentlich zu verstehen und ob dieses Phänomen in Österreich besonders ausgeprägt ist, ist derzeit nicht geklärt.
Wir möchten einige Thesen skizzieren, um die Diskussion anzureichern.
Der Befund, dass Österreicher:innen besonders wissenschaftsskeptisch seien, beruht auf der Interpretation einzelner, ausgewählter Daten des Eurobarometer Survey.
Die eingehende Betrachtung der Umfrage zeigt – je nachdem, welche Fragen herangezogen werden – ein differenziertes Bild. So sehen Österreicher:innen Auswirkungen von Erneuerbaren Energien oder Impfungen ähnlich positiv wie der EU-27-Durchschnitt. Andere Technologiefelder, wie Atomenergie und Gentechnologie in der Landwirtschaft, werden im Vergleich negativer beurteilt.1
Auch der methodische Ansatz quantitativer, international vergleichender Befragungen ist differenziert zu betrachten. Antworten der Befragten können durch unterschiedliches, kulturell geprägtes Verständnis der Fragen verzerrt sein; Motivationen für Antworten können vielschichtig und von tatsächlichem Handeln entkoppelt sein.
Spannungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sind nicht neu. Das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft ist vielschichtig.
Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass Wissenschaftskritik nicht mit der COVID-Pandemie in die Welt gekommen ist. Für Österreich besonders relevante Wegpunkte: Bereits im 19. Jahrhundert gab es Kritik an Wissenschaft, Technisierung und Industrialisierung.
In den 1970er/1980er Jahren wurde die Atomkraft kritisiert, seit den 1970er Jahren die Gentechnologie in der Landwirtschaft, in den 1980er Jahren gab es Kritik an Wasserkraftwerken (Hainburg), in den 1990er Jahren auf europäischer Ebene an der Rolle der Wissenschaft in der politischen Beratung im Zuge der Krise um Rinderwahnsinn.
Die Liste lässt sich um aktuelle Themen fortsetzen: öffentliche Debatten um Gentests, Reproduktionsmedizin, Stammzellenforschung oder Überwachungstechnologien.
Die Europäische Kommission hat bereits vor mehr als 20 Jahren das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft diskutiert und in ihrem White Paper on European Governance durchaus selbstkritisch verlässliche wissenschaftliche Information und Partizipation von Bürger:innen als Grundsätze ihrer zukünftigen Politikgestaltung angekündigt (Commission of the European Communities 2001).
Skepsis ist Wissenschaft inhärent und treibt sie an; Wissenschaftsskepsis aber ist problematisch.
Skepsis ist in der Wissenschaft zentral für die Schaffung neuer Ideen. Ohne dem Willen, etablierte Paradigmen zu hinterfragen, entwickelt sich Wissenschaft nicht weiter. Wissenschaftsskepsis aber ist problematisch, wenn sie wissenschaftlich geschaffenes Wissen kategorisch ablehnt oder zu diskreditieren versucht und stattdessen Verschwörungstheorien oder so genannte „alternative Fakten“ und (strategische) Ignoranz verbreitet (Mc Goey 2012).
Wissenschaft ist ein gesellschaftliches Teilsystem. Wie Wissenschaft mit Politik und Wirtschaft verbunden ist, hat Einfluss auf ihre Wahrnehmung.
Kritik an Wissenschaft ist häufig nicht Kritik an der wissenschaftlichen Methode per se, sondern an der Rolle von Wissenschaft in Politik und Wirtschaft.Diese Koppelung mit Politik und Wirtschaft wurde (nicht zum ersten Mal) im Rahmen der COVID-Pandemie deutlich und zum Teil kritisch diskutiert.
In der Wissenschaft besteht häufig ein „Defizitmodell“ im Umgang mit Öffentlichkeit(en).
Dieser Zugang nimmt an, dass kritische Einstellungen der Bevölkerung zu Wissenschaft in Unwissen oder mangelndem Wissen begründet sind (Starkbaum 2019). Das Modell sieht die Verantwortung für Differenzen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft vor allem in der unterstellten Unwissenheit der Bevölkerung und, darauf aufbauend, das Gegenrezept vor allem in mehr Wissensvermittlung.
Teile der Wissenschaftsforschung kritisieren das Defizitmodell seit Langem, unter anderem mit dem Argument, dass es lebensweltliche Expertise der Bürger:innen ignoriert, die in vielen Bereichen vorhanden ist (Wynne 1996).
Statt Vorwürfe gegen die die Bevölkerung zu richten, sollten wir unter anderem folgende Fragen thematisieren:
Was ist Wissenschaftsskepsis und worauf richtet sich diese? Über welche Form(en) von Wissenschaft reden wir? Was ist die Rolle der Wissenschaft für Politik und Wirtschaft? Was ist die Rolle von Politik und Wirtschaft in der Wissenschaft? Welche gesellschaftlichen Funktionen hat Wissenschaft?
Zusammenfassend regen wir an, in Österreich eine unaufgeregte Debatte zum Thema Wissenschaftsskepsis zu führen.
Literatur
Commission of the European Communities (2001). European Governance. A White Paper. COM(2001) 428. https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2001:0428:FIN:EN:PDF.
Europäische Kommission (2021). Special Eurobarometer 516. European citizens’ knowledge and attitudes towards science and technology. doi:10.2775/071577.
Law, J. (2009). “Seeing Like a Survey.” Cultural Sociology 3 (2): 239–56. https://doi.org/10.1177/1749975509105533.
McGoey, L. (2012). The logic of strategic ignorance. The British Journal of Sociology 63(3). https://doi.org/10.1111/j.1468-4446.2012.01424.x.
Wissenschaftsrat (2021). Wissenschaftskommunikation. Positionspapier des deutschen Wissenschaftsrats. https://www.wissenschaftsrat.de/download/2021/9367-21.pdf?__blob=publicationFile&v=10.
Starkbaum, J. (2018). Research, governance, and imaginaries of publics. Public engagement in the context of the European biobank infrastructure. Dissertation an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien.
Wynne, B. (1996). May the sheep safely graze? A reflexive view of the expert-lay knowledge divide. In: Lash, S., Szerszynski, B., Wynne, B. (eds). Risk, Environment and Modernity. Sage, London, pp 44-83.
1 Law (2009) veranschaulicht Letzteres anhand der Diskrepanz zwischen hoher Zustimmung für Tierschutz in Befragungen und dem tatsächlichen Konsum von Produkten aus Massentierhaltung.